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Wenn fast jedes Kind zum Sonderfall wird: Die Therapiesierung unserer Volksschule

  • andreadibiase
  • 16. Apr.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 20. Mai

Stellen Sie sich ein Klassenzimmer vor: Ein Kind trägt Gehörschutz, um dem Lärm zu entfliehen. Drei andere verlassen gerade den Raum für ihre Förderstunde. Verhaltensauffällige Kinder unterbrechen immer wieder den Unterrichtsfluss durch Zwischenrufe und Störungen. Die Lehrerin versucht, zwischen fünf verschiedenen Niveaus zu jonglieren, während eine Heilpädagogin in der Ecke mit zwei Kindern flüstert. Willkommen in der Realität der integrativen Schule – einem System, das mit den besten Absichten geschaffen wurde, aber nun an seinen eigenen Ansprüchen zerbricht.


Als amtierende Schulpflegerin stehe ich mittendrin in diesem Spannungsfeld. Täglich sehe ich die Verzweiflung in den Augen der Lehrpersonen, die Frustration der Eltern und die Verwirrung der Kinder, die nicht mehr verstehen, warum jeder ein anderes Arbeitsblatt erhält. Der kürzlich in der NZZ erschienene Artikel von Sebastian Briellmann zum Thema "Therapie statt Unterricht: Das Scheitern der integrativen Schule" hat einen Nerv getroffen – er benennt, was viele von uns längst spüren, aber nicht auszusprechen wagen.


Vom Ideal zur problematischen Realität


Die integrative Schule wurde mit den besten Absichten eingeführt: Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten sollten gemeinsam lernen, niemand sollte stigmatisiert werden, Chancengerechtigkeit sollte entstehen. Die Idee klang fortschrittlich und inklusiv.

Doch wie sieht die Realität heute aus? In manchen Klassen erhalten nahezu alle Kinder irgendeine Form von Sondersetting oder Förderung. So wie im oben erwähnten Fall, wo 17 von 18 Kindern ein Sondersetting haben. Der Regelunterricht wird zur Ausnahme. Was bedeutet es für ein Kind, wenn nur noch ein einziges Kind in der Klasse "normal" unterrichtet wird? Schafft dies nicht neue Formen der Etikettierung?




Überforderung auf allen Ebenen


Die Belastung für Lehrpersonen ist enorm gestiegen. Sie sollen nicht mehr primär unterrichten, sondern als Coach fungieren, während im Klassenzimmer gleichzeitig verschiedene Fachpersonen – von der Schulassistenz bis zur Logopädin – tätig sind. Die ständige Unruhe und das Kommen und Gehen der Kinder zu verschiedenen Fördermassnahmen erschweren einen strukturierten Unterricht.


Viele Lehrkräfte berichten von Erschöpfung und dem Gefühl, weder den leistungsstarken noch den förderbedürftigen Kindern wirklich gerecht werden zu können. Die guten Schülerinnen und Schüler tragen teilweise Gehörschutz, um sich konzentrieren zu können – ein alarmierendes Zeichen.


Der Verlust des Kernauftrags


"Anleitung, Üben, Korrektur" – diese drei Worte fassten einst zusammen, was guten Unterricht ausmachte. Die Lehrperson zeigte, erklärte, stellte Aufgaben, korrigierte Fehler. Ein klares, strukturiertes System, das Generationen von Schweizerinnen und Schweizern zu Bildungserfolgen verhalf.


Heute jedoch, wie Professor Roland Reichenbach und die Lehr- und Lernforscherin Esther Ziegler eindringlich warnen, ist dieser Kernauftrag unter einer Lawine modischer Konzepte begraben worden. "Man soll nicht mehr frontal unterrichten, soll weniger vorzeigen und erklären. Auch korrigieren ist ein Stück weit verpönt", beschreibt Ziegler die heutige Doktrin an pädagogischen Hochschulen.


Stattdessen überschwemmen uns wohlklingende Schlagworte: "Selbstorientiertes Lernen" (ohne Führung), "altersdurchmischter Unterricht" (der Leistungsstarke als kostenloser Hilfslehrer), "resilientes Verhalten fördern" (statt klare Grenzen setzen). Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen mit "Kompetenzorientierung", "individualisiertes Lernen" und "Output-Steuerung".


Diese Begriffe klingen in Konzeptpapieren und bildungspolitischen Strategien beeindruckend, doch in der schulischen Realität zeigen sie ernüchternde Ergebnisse: Ein Viertel unserer 15-Jährigen kann nicht richtig lesen. Nicht nur lesen sie ungern – sie verstehen schlicht den Inhalt mittelschwerer Texte nicht. Ein Fünftel erreicht in Mathematik nicht das Mindestmass. Und an Universitäten klagen Professoren, dass sie die handgeschriebenen Prüfungen ihrer Studierenden kaum entziffern können.


Was als fortschrittliche Pädagogik gefeiert wird, entpuppt sich zunehmend als Irrweg, der unsere Kinder um grundlegende Bildung bringt und ihnen den Start ins Berufsleben erschwert.


Die explodierenden Kosten eines wirkungslosen Systems


Die Zahlen sind beeindruckend und alarmierend zugleich: Die finanziellen Aufwendungen pro Schüler sind in den letzten zwanzig Jahren um satte 50 Prozent gestiegen! Laut Bundesamt für Statistik betrugen die Personalkosten pro Schüler 2021 knapp 15.000 Franken – ein halbes Jahrzehnt zuvor war es noch deutlich weniger.


Die Kostenspirale dreht sich ungebremst weiter. Für jedes neue Problem wird eine neue Stelle geschaffen: Mehr Schulassistenzen, mehr Heilpädagogen, mehr Logopädinnen, mehr Psychomotorik-Therapeuten, mehr Schulsozialarbeiter. Die Schule gleicht einem aufgeblähten Verwaltungsapparat, in dem für jedes Kind eine eigene Akte mit Fördermassnahmen, Lernstandsberichten und Entwicklungsplänen geführt wird.


Doch was ist der Ertrag dieser massiven Investitionen? Das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) hat in akribischer Forschungsarbeit nachgewiesen: Mehr Geld führt nicht automatisch zu besseren Leistungen. Die Leistungskurve der Schweizer Schülerinnen und Schüler zeigt trotz steigender Bildungsausgaben nach unten – ein bildungspolitisches Armutszeugnis.


Wenn der Ruf nach "mehr Ressourcen" erklingt, sollten wir kritisch hinterfragen: Brauchen wir wirklich mehr vom Gleichen? Oder benötigen wir ein grundsätzliches Umdenken?

Die bittere Wahrheit lautet: Wir haben unsere Schulen in kostspielige Therapieanstalten verwandelt, ohne die erhofften Erfolge zu erzielen. Für jeden Steuerfranken, den wir in dieses System pumpen, bekommen wir immer weniger Bildung zurück. Diese Ressourcenverschwendung können und dürfen wir uns als Gesellschaft nicht länger leisten.


Differenzierung statt Gleichmacherei


Es ist Zeit, ehrlich zu sein: Die integrative Schule hat ihre Grenzen. Es gibt einen Kipppunkt, ab dem zu viele Kinder mit besonderen Bedürfnissen in einer Klasse das Lernen aller beeinträchtigen. Dieser Punkt liegt bei etwa 15-20 Prozent der Klasse.


Eine echte Chancengerechtigkeit bedeutet, jedem Kind die Förderung zu geben, die es tatsächlich braucht – und manchmal ist das ein geschützter, separater Lernraum. Kleinere, homogenere Lerngruppen können bestimmten Kindern mehr Sicherheit und Erfolg bieten als eine Regelklasse, in der sie permanent an ihre Grenzen stossen.


Ein Ausblick


Als Schulpflegerin mit Verantwortung für Qualitätsmanagement und Schulentwicklung wollte ich ursprünglich nicht so kritisch über unser Schulsystem schreiben. Ich sehe täglich das Engagement vieler Lehrkräfte, die mit grossem Einsatz ihrer Arbeit nachgehen. Doch die Tatsachen sind leider, wie sie sind.


Im Austausch mit der Bevölkerung wird mir oft die Frage gestellt, ob sich die Kinder so verändert hätten und weshalb es nicht mehr so geht wie "der gute alte frühe Unterricht von damals". Dann stelle ich jeweils eine Rückfrage: Meinen Sie, die Gesellschaft hat sich seit den letzten 20 Jahren nicht verändert? Natürlich haben gesellschaftliche Entwicklungen auch Auswirkungen auf die Schule. Doch gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir Bildungsreformen nicht ideologisch, sondern evidenzbasiert gestalten und bei Fehlentwicklungen den Mut haben, gegenzusteuern.


In zahllosen Gesprächen mit Lehrpersonen aus allen Stufen höre ich immer wieder die gleichen Sorgen: Überforderung, mangelnde Zeit für den eigentlichen Unterricht, administrative Belastung durch Förderpläne und Standortgespräche, die Schwierigkeit, in heterogenen Klassen allen Kindern gerecht zu werden. Diese Erfahrungsberichte aus erster Hand lassen sich nicht ignorieren.


Die Politik hat das Problem erkannt. In verschiedenen Kantonen fordern nicht nur die SVP, sondern mittlerweile auch die FDP sowie Mittepolitiker eine Neuausrichtung. Es geht nicht darum, alle integrativen Ansätze über Bord zu werfen, sondern um eine sinnvolle Balance zwischen Integration und gezielter Förderung in angepassten Settings.

Unsere Kinder haben nur eine Schulzeit. Wir sollten ihnen die bestmögliche Bildung ermöglichen – ohne ideologische Scheuklappen, dafür mit pädagogischem Pragmatismus und dem Mut zur Differenzierung. Es ist höchste Zeit, dass wir ehrlich über die Grenzen der integrativen Schule sprechen und gemeinsam bessere Wege finden – zum Wohle aller Kinder.

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Die Autorin ist amtierende Schulpflegerin mit Ressortverantwortung für Qualitätsmanagement und Schulentwicklung.

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Quellen


  • Briellmann, S. (2025). "Für jedes Kind eine Diagnose und ein Sondersetting. Die Schule wird zur Therapieanstalt", NZZ vom 24.02.2025

  • Bundesamt für Statistik (2022). "Bildungsausgaben in der Schweiz 2010-2021", Neuchâtel

  • Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (2024). "Effizienz im Bildungssystem: Eine Analyse der Ausgaben und Leistungsentwicklung", Luzern

  • PISA-Studie (2022). "Schweizer Ergebnisse im internationalen Vergleich", OECD

  • Reichenbach, R. (2023). "Die Grenzen der integrativen Schule", in: Schweizer Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 45(2), S. 218-231

  • SKBF (2020). "Bildungsbericht Schweiz 2020", Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, Aarau

  • SBFI (2023). "Chancengleichheit im Schweizer Bildungssystem: Umsetzung und Wirksamkeit von Fördermassnahmen", Bern

  • Ziegler, E. (2023). "Wirkungsvoller Unterricht in der Grundschule", in: Schweizer Pädagogische Zeitschrift, 12(3), S. 145-160

  • Pädagogische Hochschule Zürich (2022). "Heterogenität und Leistungsentwicklung: Eine Untersuchung zur Klassenkomposition", Zürich


Wie dieser Blog entstanden ist


Dieser Blog-Beitrag basiert auf meinen persönlichen Erfahrungen als Schulpflegerin, zahlreichen Gesprächen mit Lehrpersonen aus verschiedenen Schulstufen sowie den öffentlich verfügbaren Daten und Studien, die in den Quellen aufgeführt sind. Der Kommentar von Sebastian Briellmann in der NZZ vom 24.02.2025 hat mich dazu inspiriert, meine eigenen Beobachtungen und Gedanken zum Thema der integrativen Schule zu strukturieren und zu teilen. Die im Text genannten Fakten und Zahlen stammen aus den angegebenen Quellen, während die gezogenen Schlussfolgerungen und Bewertungen meine persönliche Meinung auf Basis dieser Informationen darstellen.

 
 
 

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