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Integration am Limit: Warum unsere Schulen neue Wege brauchen

  • andreadibiase
  • 10. Nov. 2024
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 22. Dez. 2024


Von der Vision zur Realität


Was mit Johann Heinrich Pestalozzis Vision einer Bildung für alle begann, hat sich zu einem hochkomplexen System entwickelt. Der Weg von der Separation zur Integration war steinig, aber von der Überzeugung getragen, dass jedes Kind ein Recht auf bestmögliche Förderung hat. Heute, Jahrzehnte später, zeigt sich: Die Integration stösst an ihre Grenzen.


Der "Abklärungsdschungel" als Spiegel der Überforderung


Wenn Eltern erstmals mit dem Verdacht konfrontiert werden, ihr Kind könnte besondere Unterstützung benötigen, beginnt eine lange Reise. Meist ist es die Lehrperson, die erste Beobachtungen mitteilt. Es folgen Gespräche, in denen Eltern zwischen Sorge, Hoffnung und Abwehr schwanken. Die Klassenlehrperson empfiehlt eine Abklärung beim Schulpsychologischen Dienst - der erste Schritt in den "Abklärungsdschungel".


Die Wartezeit für einen Termin beträgt oft mehrere Monate. In dieser Zeit verschärfen sich häufig die Probleme. Das Kind erlebt möglicherweise erste Misserfolge, die Eltern fühlen sich hilflos. Wenn die Abklärung endlich stattfindet, folgt eine intensive Testphase. Der Bericht empfiehlt verschiedene Massnahmen: Logopädie, heilpädagogische Unterstützung, vielleicht Ergotherapie.


Nun beginnt der administrative Marathon. Formulare müssen ausgefüllt, Berichte eingereicht, Kostengutsprachen eingeholt werden. Jede Fachstelle hat ihre eigenen Prozesse. Während die Papiere ihren Weg durch die Institutionen nehmen, vergehen weitere Wochen. Die Wartelisten für Therapieplätze sind lang. Manche Eltern suchen verzweifelt private Alternativen, die sie selbst bezahlen.


Was als pädagogische Sorge begann, wird zu einem Vollzeitjob für die Eltern. Sie koordinieren Termine, führen Telefonate, schreiben Emails. Die ursprüngliche Idee der integrativen Schule - eine unkomplizierte Förderung aller Kinder - scheint in der Bürokratie unterzugehen.


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Der überforderte Schulalltag


In einer durchschnittlichen Klasse treffen heute die unterschiedlichsten Bedürfnisse aufeinander. Die Lehrperson unterrichtet gleichzeitig hochbegabte Kinder, Kinder mit Lernbehinderungen, Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und Kinder mit Migrationshintergrund. Im Verlauf des Vormittags verlassen einzelne Schüler immer wieder den Unterricht für Therapien. Die Heilpädagogin kommt für einige Lektionen dazu, unterstützt einzelne Kinder oder kleinere Gruppen.


Die Klassenlehrperson versucht, den Überblick zu behalten: Wer hat angepasste Lernziele? Wer braucht mehr Zeit bei Prüfungen? Wer sollte eigentlich in der Logopädie sein? Zwischen den Unterrichtsstunden finden Gespräche mit Fachpersonen statt, Förderpläne müssen aktualisiert, Elterngespräche vorbereitet werden. Die eigentliche Unterrichtsvorbereitung kommt oft zu kurz.


Die Schulleitungen jonglieren meanwhile mit Personalengpässen. Heilpädagogische Stellen bleiben unbesetzt, Therapeuten reduzieren ihre Pensen, Lehrpersonen zeigen Anzeichen von Überlastung. Die verfügbaren Ressourcen müssen immer wieder neu verteilt werden, was zu schwierigen Diskussionen und manchmal auch zu Konflikten im Team führt.


Systemische Grenzen werden sichtbar


Die personellen Ressourcen sind längst ausgeschöpft. Heilpädagogische Fachkräfte sind auf dem Arbeitsmarkt kaum zu finden, während der Bedarf stetig steigt. Die vorhandenen Fachpersonen arbeiten am Limit, Überlastungsanzeichen häufen sich. Therapeutische Angebote haben monatelange Wartelisten, was eine zeitnahe Unterstützung der Kinder verhindert.


Die räumliche Situation in vielen Schulhäusern verschärft die Problematik. Klassenzimmer sind nicht für Team-Teaching konzipiert, Gruppenräume fehlen oder sind zu klein. Therapeutische Angebote müssen in ungeeigneten Räumlichkeiten stattfinden, was die Qualität der Förderung beeinträchtigt.


Die finanziellen Grenzen werden immer deutlicher spürbar. Gemeinden ringen mit steigenden Kosten für Heilpädagogik und Therapien. Die notwendige Infrastruktur für eine erfolgreiche Integration übersteigt vielerorts die budgetierten Mittel. Gleichzeitig steigt der Bedarf an Unterstützungsangeboten weiter.


Die organisatorischen Strukturen ächzen unter der Komplexität. Stundenpläne gleichen einem Puzzle mit zu vielen Teilen. Die Koordination zwischen den verschiedenen Fachpersonen verschlingt wertvolle Zeit, die in der direkten Arbeit mit den Kindern fehlt. Dokumentationspflichten und administrative Aufgaben nehmen überhand.


Zeit für neue Modelle


  1. Flexible Lerngruppen:

    • Temporäre Kleingruppenförderung

    • Jahrgangsübergreifende Fördergruppen

    • Begabtenförderung in Spezialgruppen


  2. Vereinfachte Strukturen:

    • Weniger Fachpersonen pro Kind

    • Klarere Zuständigkeiten

    • Reduzierte Administration


  3. Innovative Raumkonzepte:

    • Lernlandschaften statt Klassenzimmer

    • Flexible Gruppenräume

    • Therapieräume mit Mehrfachnutzung


  4. Digitale Unterstützung:

    • Vereinfachte Dokumentation

    • Bessere Koordinationstools

    • Online-Förderangebote


Fazit: Integration neu denken


Die integrative Schule ist an ihre Grenzen gestossen - personell, finanziell und organisatorisch. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir den Integrationsgedanken aufgeben sollten. Im Gegenteil: Wir müssen ihn weiterentwickeln!


Die Zukunft liegt in flexibleren Modellen, die:

  • weniger komplex sind

  • ressourcenschonender arbeiten

  • der Heterogenität besser gerecht werden

  • Lehrpersonen entlasten

  • Familien schneller unterstützen


Der Weg dorthin erfordert Mut zur Veränderung. Nicht jedes Kind muss zu jeder Zeit im Regelunterricht integriert sein. Temporäre Separierung für gezielte Förderung kann sinnvoll sein. Entscheidend ist, dass wir vom starren "Entweder-oder" zu einem flexiblen "Sowohl-als-auch" kommen.


Die Zeit ist reif für eine ehrliche Diskussion über die Grenzen der Integration - und für innovative Lösungen, die allen Beteiligten gerecht werden. Nur so kann der Integrationsgedanke auch in Zukunft gelebt werden.



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