"Mein Kind hat gesagt..." – Warum die ganze Geschichte wichtig ist
- andreadibiase
- 8. Okt.
- 6 Min. Lesezeit
Kürzlich erreichte mich eine empörte Beschwerde: "Die Schulleiterin hat einfach gesagt, dass mein Kind ADHS hat!" Die Mutter war ausser sich, fühlte sich angegriffen, ihr Kind abgestempelt. Sie hatte bereits mit anderen Eltern gesprochen und erwog eine Beschwerde bei der Schulpflege.
Bei genauerer Nachfrage stellte sich heraus: Die Schulleiterin hatte in einem Gespräch erwähnt, dass das Kind Schwierigkeiten mit der Konzentration zeige und empfohlen, dies allenfalls abklären zu lassen. Sie hatte von Beobachtungen im Unterricht berichtet, konkrete Beispiele genannt und betont, dass es verschiedene Ursachen geben könne. Keine Diagnose, keine Etikettierung – nur ein fürsorglicher Hinweis, wie er täglich in Schulen ausgesprochen wird, wenn Lehrpersonen Auffälligkeiten bemerken.
Als Schulpflegerin erlebe ich solche Situationen immer wieder. Aus kleinen Missverständnissen werden grosse Konflikte – nicht weil die Ausgangssituation dramatisch wäre, sondern weil sie aufgebauscht, verdreht und emotional hochgekocht wird. Was dabei oft vergessen geht: Die eigentlichen Leidtragenden sind die Kinder und das gesamte Schulklima.
Ich schreibe diesen Beitrag, weil ich weiss, dass wir alle nur das Beste für unsere Kinder wollen. Gerade deshalb ist es so wichtig, innezuhalten und zu reflektieren, wie unsere Reaktionen auf schulische Situationen wirken können.
Wenn Aussagen zu Waffen werden
Die Mutter aus dem Eingangsbeispiel hatte in ihrer emotionalen Aufregung nur eines gehört: "ADHS". Und genau das erzählte sie weiter. Im WhatsApp-Chat der Klasse, beim Abholen auf dem Pausenplatz, beim Einkaufen im Dorf. Mit jedem Mal wurde die Geschichte dramatischer, die Schulleiterin unsensibel, die Schule inkompetent.
Plötzlich war die Schulleiterin die "böse Person, die Kinder abstempelt". Andere Eltern wurden misstrauisch: "Wenn sie das mit diesem Kind macht, macht sie es vielleicht auch mit meinem?" Das Vertrauen: beschädigt. Die Zusammenarbeit: erschwert. Die Lösung für das Kind: in weite Ferne gerückt. Denn nun sass die Mutter im nächsten Gespräch nicht mehr offen und lösungsorientiert da, sondern in Abwehrhaltung, bereit, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen.
Und das Kind? Es spürte die Anspannung, hörte die abfälligen Bemerkungen über die Schule und lernte: "Wenn etwas nicht läuft, liegt es an den anderen. Mama wird mich schon verteidigen."
Weitere Beispiele aus dem Schulalltag
"Der Lehrer hat mein Kind vor der ganzen Klasse blossgestellt!"
Realität: Der Lehrer hat nach mehrmaligen Ermahnungen das Kind gebeten, sich kurz vor die Tür zu setzen, um sich zu beruhigen. Ein pädagogisch sinnvoller und ruhiger Vorgang – der aber zuhause zur öffentlichen Demütigung wurde.
"Die Lehrerin mag mein Kind einfach nicht!"
Realität: Das Kind erhielt eine schlechtere Note als erwartet. Statt das Gespräch zu suchen oder die Arbeit gemeinsam anzuschauen, wird daraus eine Geschichte von Ungerechtigkeit und Willkür gestrickt.
"Mein Kind wird in der Schule ausgegrenzt, und niemand unternimmt etwas!"
Realität: Es gab einen Streit in der Pause. Die Lehrperson hat mit allen Beteiligten gesprochen und eine Lösung gesucht. Doch das Kind erzählt zuhause nur seine Sicht – und die Eltern glauben, die Schule schaue tatenlos zu.
"Die Schule zwingt mein Kind zu etwas, das gegen seine Überzeugungen ist!"
Realität: Im Biologieunterricht wurde Evolution behandelt, oder im Sport stand Schwimmen auf dem Programm. Statt den Lehrplan oder die Hintergründe zu verstehen, wird daraus ein Grundsatzkonflikt konstruiert.
Was dabei passiert – und was es für die Zukunft unserer Kinder bedeutet
Wenn wir uns als Eltern in solche Narrative verbeissen, geschieht etwas Gefährliches:
Das Vertrauensverhältnis bricht zusammen. Unsere Kinder spüren sehr genau, wenn wir den Lehrpersonen misstrauen. Sie lernen, dass Autorität in Frage gestellt werden muss, dass es immer einen Schuldigen gibt – und dass dieser nie sie selbst sind.
Die Fronten verhärten sich. Überspitzte Vorwürfe setzen Lehrpersonen und Schulleitungen in die Defensive. Ein konstruktiver Dialog wird unmöglich, wenn man sich zuerst gegen haltlose Anschuldigungen wehren muss.
Die Gerüchteküche brodelt. Aus einer verzerrten Elternaussage wird schnell eine Schulhof-Wahrheit. Andere Eltern werden verunsichert, die Stimmung kippt, und plötzlich steht eine ganze Schule am Pranger.
Das Kind bleibt auf der Strecke. Während Erwachsene ihre Stellungskriege führen, erhält das Kind nicht die Unterstützung, die es bräuchte. Die Energie fliesst in den Konflikt statt in Lösungen.

Was das für die Berufswelt bedeutet
Doch die Folgen reichen weit über die Schulzeit hinaus. Kinder, die lernen, dass ihre Eltern bei jedem Problem sofort intervenieren, bei jeder Kritik die Schule angreifen und bei jeder Schwierigkeit nach Schuldigen suchen, entwickeln keine Resilienz. Sie lernen nicht, mit Rückschlägen umzugehen, Kritik anzunehmen oder Konflikte selbst zu lösen.
Ein Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens brachte es kürzlich auf den Punkt: "Ich kann mit den jungen Leuten, die zu uns in die Lehre kommen, immer weniger anfangen. Wenn ich sage, dass eine Arbeit nicht gut genug ist und nochmal gemacht werden muss, kommen am nächsten Tag die Eltern und beschweren sich, dass ich ihr Kind unter Druck setze. Wenn ein Lehrling einen Fehler macht und ich ihn darauf hinweise, wird nicht nach der Lösung gefragt, sondern nach Ausreden gesucht. Früher haben junge Menschen gelernt, dass man Verantwortung übernimmt, aus Fehlern lernt und weitermacht. Heute erwarten sie, dass die Welt sich nach ihnen richtet – und wenn nicht, sind andere schuld."
Diese Worte sind hart, aber sie spiegeln eine Realität wider, die viele Ausbildungsbetriebe erleben. Jugendliche, die nie gelernt haben, mit konstruktiver Kritik umzugehen, weil ihre Eltern jede Rückmeldung als Angriff interpretiert haben. Junge Erwachsene, die bei der ersten Schwierigkeit aufgeben, weil sie nicht gelernt haben, dass Durchhaltevermögen wichtiger ist als sofortiger Erfolg. Lehrlinge, die Konflikte nicht selbst lösen können, weil Mama und Papa immer sofort eingegriffen haben.
Die Berufswelt wartet nicht darauf, dass unsere Kinder perfekt sind. Aber sie erwartet, dass sie belastbar sind, Verantwortung übernehmen können und mit Rückschlägen umgehen lernen. Und diese Fähigkeiten entwickeln sich nicht erst in der Lehre – sie beginnen in der Schule. Wenn wir unseren Kindern diese Lerngelegenheiten nehmen, indem wir jeden Konflikt für sie ausfechten, tun wir ihnen keinen Gefallen. Wir schaden ihnen.
Die andere Seite der Medaille: Kommunikation will gelernt sein
Aus meiner Erfahrung als Schulpflegerin und Fachperson für Kommunikation sehe ich aber auch eine andere, entscheidende Problematik: Lehrpersonen sind zu wenig in Kommunikation ausgebildet. Sie lernen Didaktik, Pädagogik und Fachwissen – aber oft fehlen ihnen die Werkzeuge für eine professionelle Gesprächsführung mit Eltern.
Ein Satz wie "Ihr Kind zeigt Konzentrationsschwierigkeiten, Sie sollten das abklären lassen" kann bei uns Eltern völlig unterschiedlich ankommen – je nachdem, wie er formuliert, in welchem Kontext er gesagt und mit welcher Haltung er transportiert wird. Ohne Schulung in gewaltfreier Kommunikation, in aktiver Gesprächsführung und im Umgang mit emotionalen Situationen entstehen Missverständnisse fast zwangsläufig.
Die Schulen stehen hier in der Pflicht! Es reicht nicht, von Lehrpersonen zu erwarten, dass sie "irgendwie" mit schwierigen Elterngesprächen umgehen können. Sie brauchen:
Regelmässige Weiterbildungen in Gesprächsführung und Konfliktmanagement
Supervision für herausfordernde Situationen
Klare Kommunikationsleitlinien für sensible Themen
Unterstützung durch Schulleitungen bei komplexen Elterngesprächen
Zeit und Raum, um Gespräche gut vorzubereiten
Wenn eine Lehrperson sagt: "Wir beobachten, dass Ihr Kind in bestimmten Situationen Mühe hat, sich zu konzentrieren. Gemeinsam mit Ihnen möchten wir herausfinden, wie wir es am besten unterstützen können. Was beobachten Sie zuhause?" – dann ist die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation deutlich geringer.
Was wir alle tun können
Als Eltern: Atmen wir durch, bevor wir reagieren. Holen wir beide Seiten ein. Fragen wir nach, statt anzuklagen. Unsere Kinder brauchen uns als Partner der Schule, nicht als Krieger gegen sie. Wenn wir uns missverstanden fühlen, suchen wir zeitnah das direkte Gespräch – bevor sich Ärger und falsche Darstellungen verselbstständigen.
Lehrpersonen: Kommunizieren Sie klar und dokumentieren Sie wichtige Gespräche. Suchen Sie proaktiv das Gespräch, bevor sich Missverständnisse verhärten. Holen Sie sich Unterstützung, wenn Gespräche schwierig werden – das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Professionalität.
Schulleitungen: Schaffen Sie Räume für offenen Dialog. Reagieren Sie auf Gerüchte sachlich und transparent. Und vor allem: Investieren Sie in die Kommunikationskompetenz Ihrer Lehrpersonen. Gute Kommunikation ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine erlernbare Fähigkeit.
Schulpflege und Behörden: Stärken Sie den Dialog zwischen allen Beteiligten. Stellen Sie Ressourcen für Weiterbildungen bereit. Machen Sie klar, dass konstruktive Kritik willkommen ist – Eskalation und Verzerrung aber nicht. Und sorgen Sie dafür, dass Lehrpersonen die Unterstützung erhalten, die sie für eine professionelle Kommunikation brauchen.
Fazit
Schule ist ein Ort, an dem Menschen aufeinandertreffen – mit unterschiedlichen Erwartungen, Ängsten und Hoffnungen. Konflikte sind normal. Aber wie wir mit ihnen umgehen, macht den Unterschied zwischen einer Schulgemeinschaft, die trägt, und einem vergifteten Klima, in dem niemand mehr gerne lernt oder lehrt.
Die Verantwortung liegt auf beiden Seiten: Wir Eltern müssen bereit sein, genau hinzuhören und nicht jede Frustration unseres Kindes zu einem Schulskandal hochzustilisieren. Und Schulen müssen ihre Lehrpersonen befähigen, so zu kommunizieren, dass Missverständnisse gar nicht erst entstehen.
Bevor wir das nächste Mal etwas weitererzählen, das uns empört hat, sollten wir innehalten und uns fragen: Stimmt das wirklich so? Habe ich nachgefragt? Hilft diese Darstellung meinem Kind? Trägt sie zu einer Lösung bei? Und vor allem: Bereite ich mein Kind damit auf ein Leben vor, in dem es selbstständig Herausforderungen meistern kann?
Denn am Ende wollen wir doch alle dasselbe: Dass unsere Kinder in einer Umgebung lernen können, die von Respekt, Vertrauen und echter Zusammenarbeit geprägt ist – und dass sie daraus gestärkt und resilient in ihre Zukunft gehen.
Was sind Eure Erfahrungen? Wie können wir gemeinsam ein konstruktiveres Schulklima schaffen?



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