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Noten abschaffen - Fortschritt oder Fehlentwicklung im Schweizer Bildungssystem?

  • andreadibiase
  • 20. Mai
  • 7 Min. Lesezeit


Die aktuelle Debatte: Sollen wir Schulnoten abschaffen?


Die Diskussion um die Abschaffung von Schulnoten hat in der Schweiz in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Als Schulpflegerin verfolge ich diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Die Befürworter argumentieren, dass Noten Stress verursachen, die individuelle Förderung behindern und oft nicht objektiv sind. Gegner hingegen betonen die Transparenz, Vergleichbarkeit und motivierende Wirkung von Noten.


Tatsächlich zeigen Studien der Stiftung Pro Juventute, dass ein Drittel der befragten Kinder und Jugendlichen durch schulische Anforderungen gestresst ist, wobei besonders Prüfungen und Noten Druck erzeugen. Dennoch möchte die Mehrheit der Eltern das Notensystem nicht abschaffen, wie eine Umfrage der Stiftung Mercator Schweiz belegt.


Was bedeutet eigentlich "Stress" – und wieviel davon ist zumutbar?


Bevor wir über die Abschaffung von Noten als Stressverursacher diskutieren, sollten wir vielleicht einen Schritt zurücktreten und grundsätzlicher fragen: Was verstehen wir eigentlich unter "Stress" in Bildungskontexten, und welches Mass an Herausforderung ist nicht nur zumutbar, sondern sogar entwicklungsfördernd?


Aus psychologischer Sicht ist nicht jede Form von Anspannung oder Herausforderung negativ. Im Gegenteil: Ein gewisses Mass an "Eustress" – also positivem Stress – kann motivierend wirken und gehört zur gesunden Entwicklung. Der Kinderarzt Remo Largo argumentierte zwar, die Schule sei "mit Prüfungen und Noten zur Treibjagd verkommen", wie die NZZ im März 2024 zitierte. Doch müssen wir differenzieren zwischen belastendem, lähmendem Druck und aktivierenden Herausforderungen, die Wachstum fördern.


Die Schulzeit soll Kinder und Jugendliche auch auf Anforderungssituationen im späteren Leben vorbereiten. Im Berufsleben werden sie regelmässig bewertet werden und mit Leistungserwartungen konfrontiert sein. Die Frage ist daher nicht, ob wir unseren Kindern jeglichen Stress ersparen können (oder sollten), sondern welche Art von Herausforderungen konstruktiv sind und wie wir einen angemessenen Umgang damit vermitteln können.


Wenn wir über Schulnoten diskutieren, geht es letztlich auch um unterschiedliche Menschenbilder und die Frage, was wir unseren Kindern zutrauen. Die Antwort liegt vermutlich in einer Balance: Weder sollten wir Kinder und Jugendliche durch überzogene Leistungserwartungen überfordern, noch sollten wir sie vor jeder Bewertungssituation "beschützen" wollen.


Rechtliche Rahmenbedingungen


In der Schweiz regelt jeder Kanton sein Bildungswesen selbst, was zu unterschiedlichen Praktiken führt. Der Lehrplan 21, der in der Deutschschweiz gilt, macht keine Vorgaben zur Form der Leistungsbeurteilung – Noten sind weiterhin möglich, aber nicht zwingend.


Die kantonalen Regelungen variieren stark:


  • In unserem Kanton Zürich wurden Noten im letzten Jahr gesetzlich verankert. Der Zürcher Kantonsrat hat im Sommer 2022 entschieden, dass ab der 2. Klasse zwingend Noten gesetzt werden müssen. In der 2. Klasse werden jedoch nur Deutsch und Mathematik benotet, ab der 4. Klasse alle Fachbereiche gemäss Lehrplan. Im Kindergarten und in der 1. Klasse erfolgt die Beurteilung im Rahmen von Elterngesprächen.

  • In den Kantonen Aargau, Bern und anderen arbeiten bereits mehrere Schulen ohne Prüfungsnoten, darunter auch Oberstufen.

  • In Luzern verzichten einige Primarschulen bereits weitgehend auf Noten, was die Stadt zur Vorreiterin einer "stillen Revolution" macht.


Rechtlich ist in vielen Kantonen nur das Zeugnis am Ende des Schuljahres mit Noten vorgeschrieben, während des Semesters müssen keine Noten vergeben werden. Diese Flexibilität ermöglicht es Schulen, mit alternativen Beurteilungsformen zu experimentieren.


Was bedeutet es für Lehrpersonen?


Für Lehrpersonen bedeutet ein Verzicht auf Noten eine veränderte Beurteilungspraxis. Statt einer einfachen Zahlennotation müssen sie differenziertere Rückmeldungen geben, was zunächst mehr Aufwand bedeutet. Erziehungswissenschaftler wie Philipp Eigenmann von der PH Thurgau weisen darauf hin, dass auch bei alternativen Beurteilungsformen die Grundproblematik bestehen bleibt: Lehrpersonen müssen eine individuelle Leistungsbeurteilung geben, die letztlich zur Selektion führt.


Die kompetenzorientierte Beurteilung, wie sie der Lehrplan 21 vorsieht, erfordert von Lehrpersonen eine umfassendere Beobachtung und Dokumentation der Lernentwicklung. Dies kann bereichernd sein, stellt aber auch eine Herausforderung dar, besonders in grossen Klassen mit heterogenen Lernvoraussetzungen.


Auswirkungen auf die weiterführende Ausbildung


Für den Übergang in die Berufswelt oder in weiterführende Schulen stellt sich die Frage nach der Vergleichbarkeit. Alarmierend ist, dass der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse kürzlich deutliche Kritik am aktuellen Beurteilungssystem äusserte. Laut Economiesuisse helfen die heutigen Zeugnisnoten den Ausbildungsbetrieben kaum, geeignete Lehrlinge zu finden.


Viele Lehrbetriebe beklagen, dass Schulabgänger trotz guter Noten oft nicht die nötigen Grundkompetenzen mitbringen. Die Diskrepanz zwischen schulischer Bewertung und tatsächlichen Fähigkeiten wird als erschreckend gross beschrieben.


Rudolf Minsch von Economiesuisse betont in diesem Zusammenhang: "Ob mit oder ohne Noten ist zweitrangig." Entscheidend sei, dass die Beurteilung aussagekräftig, ehrlich und vergleichbar ist und auch für KMU-Inhaber verständlich bleibt, die sich nicht täglich mit Personalfragen beschäftigen. Im Kern geht es darum, dass die Schule wieder vermehrt die Grundkompetenzen vermittelt und sicherstellt, die im Berufsleben tatsächlich benötigt werden.

Für Lehrbetriebe könnten realistischere Beurteilungen hilfreich sein, um geeignete Lehrlinge zu finden.


Doch wie sollen diese aussehen? Wie lässt sich Vergleichbarkeit herstellen, wenn jede Schule ihr eigenes Beurteilungssystem entwickelt? Und wie stellen wir sicher, dass die Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen wieder stärker gefördert werden?



Eine Lehrperson und ein Schüler mit Noten und Zeugnis

Alternative Beurteilungsformen zu Noten


In der Schweiz werden bereits verschiedene Alternativen zu Noten erprobt, die genauerer Betrachtung bedürfen:


  1. Kompetenzraster: Diese beschreiben detailliert, welche Fähigkeiten ein Kind auf welcher Stufe beherrscht. Laut dem Schweizer Eltern Magazin Fritz+Fränzi (Ausgabe 6/2023) nutzt beispielsweise die Schule Rütihof im Kanton Aargau solche Raster erfolgreich. Praktisch betrachtet erfordern sie jedoch einen erheblichen Dokumentationsaufwand für Lehrpersonen und können für Eltern und Arbeitgeber schwerer zu interpretieren sein als eine klare Note.

  2. Portfolios: Schülerinnen und Schüler sammeln ihre Arbeiten und dokumentieren ihren Lernfortschritt selbst. Die Fachliteratur betont hier die Eigenverantwortung der Lernenden. Doch kritisch betrachtet: Wie vergleichbar sind solche individuellen Sammlungen zwischen verschiedenen Schülern, Klassen oder gar Schulen? Für weiterführende Schulen oder Lehrbetriebe stellt sich die Frage der Standardisierung.

  3. Lernberichte: Lehrpersonen beschreiben ausführlich die Entwicklung des Kindes in verschiedenen Kompetenzbereichen. Der Beobachter berichtete im März 2024, dass immer mehr Schulen diesen Weg gehen. Solche Berichte bieten zwar mehr Kontext als eine blosse Zahl, bringen aber auch eine erhöhte Subjektivität mit sich. Persönliche Sympathien oder Antipathien zwischen Lehrperson und Schüler können hier stärker einfliessen als bei standardisierten Bewertungen.

  4. Selbst- und Peer-Bewertungen: Schülerinnen und Schüler lernen, sich selbst und gegenseitig einzuschätzen. Dies fördert Reflexionsfähigkeit, kann aber auch soziale Dynamiken in der Klasse verstärken und ist ohne professionelle Anleitung anfällig für Fehleinschätzungen.


Die erwähnte Schule Rütihof im Kanton Aargau hat sich, wie die ehemalige Schulleiterin Lisa Lehner in Fritz+Fränzi (Ausgabe 6/2023) berichtet, auf den Weg der kompetenzorientierten Bewertung begeben. Die damalige Schulleiterin erklärte: "Je tiefer wir uns mit dem Unterricht in heterogenen Klassen auseinandersetzten, umso klarer wurde uns, dass die Beurteilung mit Noten nicht in unser Konzept passte." Das Jahreszeugnis muss zwar noch mit Noten ausgestellt werden, aber der Weg dahin hat sich verändert.



Internationale Beispiele – Neue Verpackung, alter Inhalt?


Auch ausserhalb der Schweiz gibt es vieldiskutierte Modelle: Das "Bremer Modell" in Deutschland ersetzt zum Beispiel die Noten 1-6 durch Kreuzchen auf einer Skala von 1-10, wobei 7 bedeutet, dass das Lernziel erreicht wurde. Bei kritischer Betrachtung stellt sich jedoch die Frage: Ist dies nicht lediglich eine andere Form der Skalierung? Eine Bewertung bleibt eine Bewertung, ob sie nun als Zahl von 1-6, als Kreuzchen auf einer Skala oder als Sternchen daherkommt.


In Montessori- und Waldorfschulen gehört der Verzicht auf Ziffernoten seit jeher zu den grundlegenden Prinzipien. Diese Schulen setzen auf ausführliche Wortzeugnisse und individuelle Rückmeldungen. Während dies pädagogisch wertvoll sein mag, bringt es in der Praxis erhebliche Herausforderungen mit sich: Wortzeugnisse erzeugen einen hohen bürokratischen Aufwand, erschweren die Vergleichbarkeit und bieten mehr Raum für subjektive Einschätzungen als standardisierte Noten.


Der Deutschlehrer und Fachdidaktiker Philippe Wampfler von der Universität Zürich argumentiert laut einem Bericht in Watson (Juni 2021), dass "Noten bewirken, dass Kinder und Jugendliche das Interesse am Thema verlieren, sich einfachere Aufgaben aussuchen und in ihren Lernaktivitäten oberflächlich werden." Diese Einschätzung mag für einige Kinder zutreffen – doch für andere können Noten durchaus einen Ansporn darstellen, wie viele Praktiker aus dem Schulalltag berichten.


In welche Richtung sollten wir gehen?


Die Frage, ob wir Noten abschaffen sollten, lässt sich nicht pauschal beantworten. Wir befinden uns als Gesellschaft noch mitten in der Meinungsbildungsphase, und eine ideale Lösung, die alle Ansprüche erfüllt, ist bisher nicht in Sicht. Klar ist: Das aktuelle System hat Schwächen. Noten können demotivieren, Stress verursachen und bilden die tatsächlichen Kompetenzen oft nur unzureichend ab.


Allerdings sollten wir bedenken, dass eine Abschaffung der Noten allein noch keine bessere Schule macht. Entscheidend ist, was an ihre Stelle tritt. Alternative Beurteilungsformen müssen pädagogisch sinnvoll, für alle Beteiligten verständlich und praktikabel sein. Die bisher vorgeschlagenen Alternativen bringen eigene Herausforderungen mit sich – sei es durch erhöhten administrativen Aufwand, mangelnde Vergleichbarkeit oder erhöhte Subjektivität.


Als Schulpflegerin plädiere ich für einen differenzierten, aber auch pragmatischen Ansatz:


  1. Wir sollten die Beurteilungspraxis weiterentwickeln, ohne bewährte Elemente vorschnell über Bord zu werfen. Noten bieten trotz aller Kritik eine klare Orientierung für Schüler, Eltern und abnehmende Institutionen.

  2. Schulen brauchen Spielraum für eigene Lösungen, die zur jeweiligen Schulkultur passen. Der kantonale Flickenteppich könnte jedoch die Durchlässigkeit im Bildungssystem gefährden.

  3. Lehrpersonen benötigen Zeit, Unterstützung und Weiterbildung, um neue Formen der Beurteilung kompetent umzusetzen – ohne sie mit zusätzlichem administrativem Aufwand zu überlasten.

  4. Bei aller Innovation müssen wir die Vergleichbarkeit und Verständlichkeit für Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie abnehmende Institutionen im Blick behalten. Gerade für Lehrbetriebe und weiterführende Schulen ist ein verlässliches Beurteilungssystem unverzichtbar.


Die Debatte um Schulnoten ist letztlich Teil einer grösseren Frage: Welche Schule wollen wir? Eine, die primär auf Selektion und Wettbewerb ausgerichtet ist, oder eine, die individuelle Förderung und Freude am Lernen in den Mittelpunkt stellt? Meiner Ansicht nach brauchen wir beides: klare Orientierung über den Leistungsstand und eine motivierende, fördernde Lernumgebung.


Die Bemühungen um eine Reform der Beurteilungspraxis verdienen Anerkennung und kritische Begleitung. Wir sollten jedoch realistisch bleiben: DIE eine perfekte Lösung gibt es (noch) nicht. Vielleicht liegt die Antwort in einer klugen Kombination aus traditionellen Noten und ergänzenden Beurteilungsformen – einer Synthese, die sowohl die Vergleichbarkeit wahrt als auch der Vielfalt der Lernenden gerecht wird.


Was meinen Sie dazu? Ich freue mich auf Ihre Gedanken und Rückmeldungen zu diesem wichtigen Thema.


Der Beitrag spiegelt die persönliche Meinung der Autorin wider und nicht notwendigerweise die offizielle Position der Schulpflege Pfäffikon ZH.



Quellen:


  1. Lehrplan 21. "Beurteilung und Zeugnisse." www.lehrplan21.ch/beurteilung-und-zeugnisse. Zugegriffen am 18. Mai 2025.

  2. Kanton Zürich. "Volksschule Zeugnisse und Beurteilung." www.zh.ch/de/bildung/schulen/volksschule/volksschule-unterricht/volksschule-zeugnisse-beurteilung.html. Zugegriffen am 18. Mai 2025.

  3. Neue Zürcher Zeitung. "Schule ohne Noten? Kein Klassenkampf im Klassenzimmer." 5. Juli 2022.

  4. Neue Zürcher Zeitung. "Der letzte Pfeiler der alten Schule wankt: Weshalb der Zeitgeist auch die Schulnoten wegfegt." 19. März 2024.

  5. Beobachter. "Schule ohne Noten: Was Wirtschaft und Eltern zum neuen Trend sagen." März 2024.

  6. Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi. "Die Not mit den Noten." Ausgabe 9/2023.

  7. Fritz+Fränzi. "Eine Aargauer Schule geht neue Wege ohne Noten." Ausgabe 6/2023.

  8. Watson. "Warum Volksschulen ohne Noten in der Schweiz kaum Chancen haben." 17. Juni 2021.

  9. Stiftung Pro Juventute. "Stress bei Kindern und Jugendlichen." Studie, 2021.

  10. Stiftung Mercator Schweiz. "Umfrage zu Schulnoten." 2023.

  11. Economiesuisse. "Ob mit oder ohne Schulnoten ist zweitrangig." Medienmitteilung, März 2024.

  12. Economiesuisse. "Fehlgeleitete Diskussion über Schulnoten." Dossierpolitik, Februar 2024.

  13. Handelszeitung. "Lehrlingsmangel: Wirtschaft kritisiert mangelnde Grundkompetenzen bei Schulabgängern." April 2024.

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